Im Anflug auf Flandern

Von Norman Gower

Belgien 1972

„Sollen wir nach Belgien abhauen?“ fragte mich mein alter Radkamerad Ron im Frühling 1972. Ich wusste, aus Erfahrung, wie schnell und schwer Radrennen dort bestritten wurden. 

Was ich noch wusste -  bei der Talentvergabe stand ich ziemlich weit hinten und musste immer versuchen mit vielem Enthusiasmus diesen Mangel zu kompensieren. Aber der bloße Gedanke den ganzen Sommer in einem Büro zu hocken war trotzdem viel schlimmer und hing über mir wie eine schwarze Wolke.

Ich sagte sofort zu.

Ron, auf der andere Seite, war ein zäher erfahrener Radrennfahrer mit vielen Siegen und guten Platzierungen über mehrere Jahre hinweg.

Nach vielen Querfeldeinrennen im Winter, jede Menge Trainingsmeilen und mehrere Straßenrennen in England waren wir, dachte ich, gut vorbereitet für was uns jenseits des Ärmelkanals erwarten würde.

Unser Ziel war Gent in Ost Flandern, genauer gesagt St. David’s Gasthaus unter der Führung Mrs Deene. Diese Dame, ursprünglich aus Wales, hatte ihren künftigen Ehemann während des Krieges kennengelernt. Sie, eine Schaffnerin in einer Londoner Straßenbahn, und Georges Deene ein Belgier im vorübergehenden Englischen Exil trafen sich und heirateten. Als Friede in Europa zurückkehrte, kehrten die beide in Georges Heimat zurück wo Mrs Deene ein Gasthaus eröffnete. Ursprünglich gedacht für Britische Touristen entwickelte es sich zu einem Zufluchtsort für Radrennfahrer.

Weil wir länger bleiben wollten, bot uns Mrs Deene ein kleines Apartment in der nächsten Straße an und dort machten wir es uns bequem. Viel Obst, Salate, Gemüse und Pasta stand auf unserem Speiseplan aber Pferdesteaks mit Reis war auch ein Lieblingsgericht.

Damals gab es jede Menge Rennen in Flandern, am Wochenende aber auch unter der Woche, die normalerweise in Verbindung mit einem Fest oder Kirchweih organisiert waren - also Kermisrennen.

Das System in Belgien war sehr unkompliziert. Wir durften fast an allen Rennen, die für International Liefhebbers (Amateure) offen waren, teilnehmen.

Nötig war eine gültige Rennlizenz, in unsem Fall von dem Britischen Radverband, und eine Versicherungsmarke die man beim ersten Rennen kaufte. Sie war dann für das ganze Jahr gültig.

Einschreibung war immer in einem Café unmittelbar vor der Startlinie. Man zeigte seine Lizenz, zahlte 10 Franken Pfand und bekam eine Rückennummer. Nach dem Rennen gab man die Nummer zurück und bekam die 10 Franken zurück plus jegliches Preisgeld. Preisgeld gab es mindestens für die ersten zwanzig Plätze, in großen Rennen bis zum dreizigsten Platz.

Die Einwohner im Ort öffnete ihre Garagen oder Schuppen als Umkleideräume. Nach dem Rennen wurde Wasser (kalt) in einem Eimer oder Schlüssel zum Waschen bereitgestellt. Alles war sehr unkompliziert. 

Die Rennstrecken waren meistens 90-120 km lang, so dass das Fahrerfeld ungefähr jede 10-15 Minuten die Ziellinie passierte.

Das Tempo war von Anfang an sehr hoch, nach jeder Ecke wurde volle Pulle gesprintet: Alle wollten vorne sein (kop van de wedstrijd). Dies ging so weit bis eine Spitzengruppe sich formierte und etwas Ruhe herrschte. Aber dann kam die nächste Konterattacke. Diese konstanten Tempowechsel waren nicht sehr angenehm. In dieser Zeit, bevor man Herzpulsgeräte und Power Meters erfunden hatte, waren schwarze Punkte vor den Augen und ausgehustete Lungenfetzen die einzigen Warnsignale um leiser zu treten.

Fast alle diese Liefhebbers hatte nur ein Ziel und zwar einen Profivertrag zu ergattern. Je mehr Siege, oder wenigsten Plätze unter den ersten drei, desto mehr Chancen hatten sie.

Die Straßen waren nicht ganz gesperrt aber der Verkehr gestoppt, so dass eine sichere Passage des Fahrerfelds ermöglicht war. Dies gelang mit Hilfe der Polizei, Feuerwehr und ein Auto das vorne fährt mit einem Lautsprecher und Warnschild „Achting Wielerwedstrijd“.

Hinten fuhr noch ein Wagen mit dem Rennkommisar. Wenn er schätzte, dass ein Fahrer hoffnungslos abgehängt war, bei mir oft der Fall, sagte er dem glücklosen Fahrer, dass er im Rennen bleiben darf, er muss aber die StVO achten und die Radwege benutzen. Bei der nächsten Zielpassage wurde er oft angehalten und kam dann auf die Ergebnisliste mit dem entsprechenden Rundenrückstand.

Ab und zu konnte ich mit dem Feld ins Ziel kommen, 25igsten war meine beste Platzierung. Dies war eigentlich bedeutungslos, da kein Preisgeld zu gewinnen war, deswegen gaben viele Fahrer das Rennen auf, in der Hoffnung beim nächsten Mal bessere Beine zu haben. 

Der Rennkalender erschien im Wielersport, ich versuchte leichtere Rennen davon auszuwählen. Hoffnungslos! Die waren so rar wie Schaukelpferdäpfel.

Das Wetter im Frühsommer 1972 war nicht schön, kühl und nass. Zwischen den Rennen sind wir viele Trainingskilometer gefahren immer mit einer Regenjacke in der Tasche die wir manchmal zwei oder dreimal pro Tag an- bzw. ausziehen mussten.

In einer Ecke unseres Apartments stand ein großer alter Ofen. In der Hoffnung unsere nassen Kleider zu trocknen, kauften wir Kohle und versuchten dieses Monster anzuzünden. Ich glaube Georges Deene hat jahrelang versäumt den Schornstein kehren zu lassen. Meistens wurde der Rauch ins Wohnzimmer geleitet, das auch mein Schlafzimmer war. Im Vergleich war es ein Vergnügen draußen in Regen zu fahren.

Für die technisch Interessierten: wir benutzten ein 6-er Zahnkranz 13-18 mit 53/42 Kettenblätter, Schlauchreifen waren Clement „Criterium“ für Rennen und robustere Modelle von Wolber oder Hutchinson für Training. 

Obwohl jeder Hauch von Erfolg bei mir ausblieb, kam überraschend eine Einladung ein Rennen zu fahren als Teil einer (sehr) inoffiziellen GB Mannschaft. Unser Team Leader war Grant Thomas, sehr erfolgreich mit mehreren Siegen in Belgien und der Niederlande: Jemand vor dem ich viel Ehrfurcht hatte. Ron war natürlich auch dabei und die restlichen Teammitglieder hatten alle viele Erfolge in den Niederlanden gehabt. Die letzten Möglichkeiten wurden ausgeschöpft als ich hinzukam. 

In Verbindung mit dem Profi-Rennen Omloop van Ost Vlaandern hätten wir zwei Rennen von je ca. 1 Stunde zu fahren auf einer kurzen Runde in Evergem.

Die Profis fuhren zuerst einige Runden auf diesen kurzen Rundstrecken bevor sie heraus auf eine große Schleife losgeschickt wurden. 

Dann kamen wir. Das erste Rennen gewann Grant und wir mussten dann sicherstellen dass er genügend Punkte im 2. Rennen erreichte um die Gesamtwertung zu sichern.

Während wir eine Verschnaufpause machten, kamen die Profis zurück, drehten einige Runden und verschwanden wieder auf eine zweite lange Schleife tief in Ost Flandern.

Dann waren wir zum Start für Rennen Nr. 2 aufgerufen wo Grant wieder gewann und damit die Gesamtwertung sicherte und obwohl mein Beitrag zum Erfolg null war, konnte ich für eine kurze Zeit einen total unverdienten Ruhm genießen.

Gent ist ein Binnenhafen, verbunden mit einem Kanal zur Nordsee und auf diesem Hafengelände einige Zeit nach Evergem, kam ein Rennen das fast in unserem Hinterhof stattfand. 

Das Wetter war, wie immer, regnerisch und als ob nasse Kopfsteinpflaster nicht schlimm genug wären, kamen Bahngleis die schräg in die Lagerhäuser fuhren dazu. In jeder Runde konnte man das Geräusch von stürzenden Fahrer hören, die nicht über diese Gleise erfolgreich hüpften.

Dann war ich an der Reihe. 

Im Klinikum

Ich landete im Klinikum mit einem gebrochenen Schlüsselbein und einer Kopfwunde. Die Sturzhelme damals bestanden aus gepolsterten Schaumstreifen umhüllt mit Leder. (Für den Schutz den sie geboten haben, hätte man genauso gut lederumhüllte gepolsterte Schaumstreifen tragen können).

Wir waren zu viert im Zimmer, ein Belgischer Junge, der von seinem Moped gestürzt war und zwei Matrosen, ein Russe (Ivan) und ein Pakistaner, alle drei mit gebrochenen Beinen.

Wer ein Aufenthalt im Krankenhaus erlebt hat, kennt die Routine.

Wir wurden sehr früh wird aufgeweckt um Schlaftabletten zu nehmen. 

Dann kam das Frühstuck (ondbijt), Mittagessen und dann Abendbrot. Was wir zu essen bekamen, weiß ich nicht mehr. Es reicht zu sagen, es gab kein Michelin Sterne aber niemand ist verhungert.

Um mein Schlüsselbein zu heilen, bekam ich ein Halfter wie ein Pferdgeschirr. Jeden Tag kam eine Nonne vorbei um dieses Folterinstrument enger zu schnallen, was ziemlich schmerzhaft war. Ob das geholfen hat, weiß ich nicht, aber der Dame schien es zu gefallen ihre persönliche Rache für die Enteignung der Katholischen Kirche England durch König Heinrich VIII in den 16. Jahrhundert zu nehmen.

Konversation war begrenzt. Mit dem Vater des Moped Fahrer, der als junger Mann in Deutschland arbeiten musste, konnte ich, mit meinem Schuldeutsch und er mit seinem Kriegsdeutsch einigermaßen miteinander sprechen.

Jeden Tag, nach dem Mittagessen bekam Ivan zwei Besucher aus dem Sowjetischen Konsulat. Wer die Bücher von John le Carré gelesen hat, würde die zwei sofort als Moskau Center thugs erkennen – also KGB. Ein Korb mit Wein, Obst und andere Leckerbissen war immer dabei, wahrscheinlich damit Ivan nicht in den Westen abhaut. Obwohl er mehr Interesse an der Flasche Rotwein hatte, als in politisches Asyl zu beantragen.

Waren seine Besucher weg, verlor Ivan keine Zeit den Traubensaft zu genießen. Schnell war die Flasche leer und weil der Rest seines Korbes nicht so interessant schien, kam ein Ruf „hey Inglisch“. Äpfel und Birnen sind dann durch das Zimmer in meine allgemeine Richtung geflogen. Nach dem Weingenuss ließ Ivans Zielgenauigkeit etwas zu wünschen übrig, so dass meine anderen Zimmergenossen auch von seiner Großzügigkeit profitieren konnten.

Nach dieser Verteilung war Ivan plötzlich müde so dass der Moped Junge und ich uns in Ruhe auf den Fernseher konzentrieren konnten als die Übertragung der Tour de France begann. 

Moped Junge war enttäuscht als Eddy Merckx auf einer Bergankunft, in dem Glauben dass er gewonnen hätte, in Freude sein Arm zu früh hob nur um festzustellen dass Cyrille Guimard den Sieg mit wenigen Millimeter Vorsprung davon trug. Dasselbe passierte Erik Zabel mehrere Jahre später bei Milano-San Remo.

Das schreckliche Wetter verbesserte sich auf einmal. Die Wolken verschwanden, die Sonne schien und Belgien erfuhr eine Hitzewelle. Mit Fäden im Kopf und zugerichtet wie ein Pferd wurde die Klinik jetzt unerträglich und weil es mir jetzt besser ging, durfte ich nach Hause gehen. 

Zurück in England meldete ich mich an King George’s Hospital. Hier bekam ich die Fäden gezogen und mein Schlüsselbein wurde untersucht. Der junge Arzt hatte sowas wie meine Pferdausrüstung nur in alten Textbüchern gesehen und er sammelte Kollegen und Krankenschwester um mich herum, um dieses Überbleibsel einer lang vergessenen medizinischen Zeit zu bewundern. Ich war nicht sehr beeindruckt über diese Heiterkeit auf meinen Kosten, besonders als er mein Relikt mit einer Bandage ersetzte, umwickelt über den Schultern wie Rennfahrer der 30er Jahre ihre Ersatzreifen trugen. Diese Bandage schien in Vergleich zu meinem Pferdgeschirr, nicht so stabil, außerdem hatte ich mich bis dann an das Pferdgeschirr gewöhnt. Dieses unruhige Gefühl wurde bestätigt als ich eine Woche oder so später, auf losen Splitt, zu Fall kam. Die Fraktur war wieder geöffnet und ich musste einhändig nach Hause fahren.

Postscript

Die passende Zeit spielt Tricks mit unseren Gedächtnissen, manche Sachen werden vergessen und andere erfunden. Es gibt nur selten eine Person die perfekte Erinnerung genießt, auch von kurz Geschehen, von fünfzig Jahren ganz zu schweigen, also sollten sich offensichtliche Fehler in dieser Geschichte eingeschlichen haben, kann man die Schuld der Laune der Zeit geben. 

Die schönste Wirkung dieser Laune - die unerfreulichen Geschehnisse werden geschmälert oder ausgeblendet.

Die endlosen Trainingsfahrten im Regen, die rauen Kopfsteinpflaster oder Straßen aus Betonplatten mit breiten Spalten, die einen unvorsichtigen Radler verschlucken konnten. 

Oder zu treten so schnell wie möglich in einer Windkante in deinem größten Gang während der Abstand zu Vordermanns Hinterrad allmählich größer wird und du weißt, dass im nächsten Moment ein Schrei kommen wird „Gott verdomme!“, von dem Glücklosen der dieses Loch schließen musste.

Gesehen von dem falschen Ende das Fernglas der Zeit scheint diese Dinge nicht mehr so schlimm.

Wenn wir das Fernglas umdrehen, erscheinen unsere anderen Erinnerungen deutlich schöner. 

An einem Tag sahen wir eine einsame Figur am Straßenrand in einem Gan-Mercier Trikot. Es war Barry Hoban, Gewinner von 8 Tour de France Etappen sowie Gent Wevelgem Er hatte ein Plattfuß erlitten, sein Reifen gewechselt um nur dann zu entdecken, dass seine Pumpe noch zu Hause war. Wir fuhren zusammen nach Gent, ich in der vergeblichen Hoffnung das ein Funke Talent auf mich überspringen würde.

Oder an der Startlinie in St. Niklaas neben Freddy Maertens, prächtig in seinem Belgischen Amateur Meister Trikot. Mit seiner strahlender Klasse und Talent war es leicht zu sehen, dass er vor einer großen Karriere stand aber trotzdem bereit war einige nette Worte mit dem Engelsmann zu tauschen. Er ahnte bestimmt, dass keine Bedrohung von mir ausgehen würde.

So viele Jahre sind jetzt vergangen, die Erinnerungen werden blasser aber ich brauche nur mit geschlossenen Augen in einem Bayerischen Volksfest zu sein und der Geruch von Bier, Pommes, Mandeln; die Geräusche der Fahrgeschäfte, Musik und Menschenmasse transportieren mich zurück zu jenen Flämischen Rennen und die netten, gastfreundlichen Leute wie Mrs Deene und Georges, die leider nicht mehr unter uns sind.

Ron und Grant Thomas haben sich auch verabschiedet: Beide fahren bestimmt kop van de wedstrijd in dem grote Kermisrennen im Himmel.

Ingolstadt März 2023


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